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Stellungnahme von Bürgermeister Klaus Krützen zur aktuellen Diskussion um die Zukunft der Braunkohle

Reine Symbolpolitik führt in die Sackgasse.

Als Bürgermeister einer betroffenen Kommune, ehemaliger Biologielehrer, Gewerkschaftsmitglied der IGBCE, vormaliger Vorsitzender der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald in Grevenbroich und auch als Arbeitnehmer-Vertreter im Aufsichtsrat von RWE Power habe ich mir in der letzten Woche viele Gedanken über die Entscheidung des OVG Münster und ihre Auswirkungen auf unsere Region gemacht. Ich habe viele Gespräche geführt, vieles (nach-)gelesen und -recherchiert und habe natürlich auch die mit großer Intensität (manchmal über das Ertragbare hinaus) geführte Debatte in den sozialen Medien verfolgt.

Einleitend möchte ich festhalten, dass Grevenbroich keine RWE-Aktien hält und ich den weitaus überwiegenden Teil meiner Aufsichtsratstantiemen an Stiftungen der Gewerkschaft und gemeinnützige Institutionen abführe – nur, um voreingenommen Kritikern das Argument, ich müsste aus fiskalischen Gründen „pro RWE“ sein schon einmal zu nehmen.

Mein Fazit ist, nach diesen zwei Wochen seit dem Urteil aus Münster gibt es, auch auf der Seite der „vermeintlichen“ Gewinner, nur Verlierer: zuallererst Politiker und Politik, aber auch RWE, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Revier, die betroffenen Kommunen, die vor dem Strukturwandel stehen, (die vermeintlichen Gewinner) Bündnis 90/Die Grünen, die an einer wirklichen Energiewende interessierten Menschen und auch die „Aktivisten“ im Hambacher Forst – von der Fauna und Flora dieses übrig gebliebenen Restwaldes einmal abgesehen. Betrachte ich dazu die Entwicklung in den letzten Wochen, festigt sich meine Meinung über die zunehmende „Ritualisierung“ und den damit verbundenen Vertrauensverlust der Bevölkerung in Politiker und die Politik, und damit in Demokratie, der lediglich die Parteien am rechten Rand stärkt.

Als Kommunaler lernt man eins ziemlich schnell: jedwede Art von Ideologie ist bei der Ausführung dieses schönen Amtes vollkommen fehl am Platz. In „meinem“ BM-Wahlkampf 2015 habe ich immer gesagt, dass es egal sei, welche Farbe der Kanaldeckel habe – ob schwarz, grün, gelb oder rot – wenn es klappert, muss das Klappern beseitigt werden. Diese pragmatische Herangehensweise prägt mein Amtsverständnis bis heute – und lässt mich zunehmend kritisch werden, wenn ich das Gefühl bekomme, dass Entscheidungen nur noch aus ideologischen Gründen gefällt werden oder sofort die Ritualisierungsmaschinerie aus Ablehnung und Empörung in Gang gesetzt wird, wenn vom vermeintlich „Andersdenkenden“ eine Initiative ausgeht.

Der nächste Punkt, der mich umtreibt, ist die Frage nach der Verlässlichkeit. Bei allen Dingen, die ich entscheide, versuche ich zumindest in der vorherigen Kommunikation und in der sich anschließenden Umsetzung bei dem zu bleiben, was besprochen wurde. Sicherlich gelingt das nicht immer durchgehend, aber diejenigen Menschen, für die wir Politik machen, haben meines Erachtens ein Recht darauf, dass das, was gesagt wird, auch so umgesetzt wird. Die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt massiv um ihre Arbeitsplätze fürchten, bestätigen mir dies in Gesprächen immer wieder: „Wenn man sich auf die Aussagen von Politik verlässt, ist man verlassen.“

Von daher habe ich für mich auch meine offenen Fragen über das Ende der Braunkohleverstromung mit der von SPD und B90/Grüne 2016 beschlossenen Leitentscheidung beantwortet gesehen. Bis 2045 wird der (verkleinerte) Tagebau Garzweiler ausgekohlt und die beiden anderen Tagebaue Hambach und Inden laufen in ihren genehmigten Abbaugrenzen weiter und werden dann rekultiviert. Damit ist aber auch das Ende des Braunkohlezeitalters in der Bundesrepublik besiegelt. Dies, so dachte ich, war allen Beteiligten klar – selbst dem Vorstand von RWE und den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben. Und dies würde zu einem wesentlichen Beitrag der Bundesrepublik bei der Reduzierung der CO2-Emissionen führen. Leider falsch gedacht.

Und genau hier kommen wir an den Punkt, an dem ich mir als betroffener Bürgermeister ernsthaft die Frage stelle, ob überhaupt noch Sachgründe eine Rolle bei den Protesten spielen, oder ob es durch eine ideologische Überhöhung des Symbols „Hambi“ nur noch darum geht, der Braunkohle voreilig den Garaus zu machen.

Ich komme nach der Analyse der Ereignisse zu dem Schluss, dass hier perfide mit der Zukunft der Menschen einer ganzen Region gespielt wird, ohne die Fakten zur Energiewende zur Kenntnis zu nehmen und ignorierend, dass der Verzicht auf die Kohlegewinnung im Tagebau Hambach in keiner Weise dazu beitragen wird, das Weltklima nachhaltig zu verändern. Während ich diese Worte schreibe, sind weltweit 1.400 Kohlekraftwerke in Planung.
Dabei möchte ich nicht allen Menschen, die gegen Braunkohle sind und sich Protesten anschließen, unredliches Handeln unterstellen. Die allermeisten sind zutiefst davon überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen – aus mangelnder Kenntnis über die Situation bei uns vor Ort heraus. Mein Vorwurf richtet sich gegen die „Anheizer“, die Randalierer, Vandalen, die Polizisten mit Fäkalien bewerfen und die kühl kalkulierenden Taktiker, denen es eigentlich überhaupt nicht um die Sache geht, sondern die eine Chance erkannt haben, politisches Kapital zu gewinnen.

Ich finde es gut, dass Deutschland bei der Energiewende eine Vorreiterrolle einnimmt. Aber die gebotene Zeit dafür benötigen wir. Denn ein Blick auf die drohenden Veränderungen, wenn wir kurzfristig aus der Braunkohleverstromung aussteigen würden, ist für uns hier sehr erschreckend:
Natürlich kann es mir nicht egal sein, dass in Grevenbroich direkt ca. 1.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen – Arbeitsplätze, die gut bezahlt sind und wo die Kollegen eben nicht nach Feierabend noch mehr dazuverdienen müssen, um die Familie am Leben zu erhalten.

Natürlich kann es mir nicht egal sein, dass an diesen Arbeitsplätzen weitere 3.000 Arbeitsplätze hängen, die indirekt mit der Arbeit in den Kraftwerken oder den Tagebauen zu tun haben.

Natürlich kann es mir nicht egal sein, dass alleine Hydro in Grevenbroich mit über 2.000 Arbeitsplätzen an geringen Stromkosten interessiert ist und man seitens der Konzernleitung sehr genau darauf schaut, wie sich die Strompreise in Deutschland (die in Europa die höchsten sind) entwickeln. Schon jetzt wird die Entscheidung des OVG die Strompreise in Deutschland im nächsten Jahr weiter steigen lassen.

Ungläubig schaue ich auf die Berliner Politik, die sich in den letzten Wochen auffällig ruhig verhält, wenn es um den „Hambi“ geht. Dabei steht hier aus meiner Sicht viel mehr auf dem Spiel als die 1,4 x 1,4 km große Restfläche eines Waldes, der schon zu 90% gerodet ist. Die Waldfläche hat sich in Deutschland in den letzten einhundert Jahren fast verdoppelt, allein in NRW haben wir 900.000 Hektar Wald. Die 200 Hektar, die vom Hambacher Forst noch übrig sind, machen also gerade einmal 0,02% des Waldbestands in NRW aus (fast 90 Hektar werden im Übrigen gerade im Moment in Aachen gerodet, um für Windkraftanlagen Platz zu schaffen. Zu hören ist kein Protest).

Prägend war für mich auch ein Spaziergang mit meiner Frau bei meinen Schwiegereltern in Heide in Schleswig-Holstein an einem Neujahrmorgen vor zwei Jahren. Ringsherum nur Windräder. Wir haben bei über 100 (!) aufgehört zu zählen. Mal abgesehen von der optischen Zumutung der Bevölkerung in diesen Gebieten kann die Windkraft erst ca. 25% des immer weiter steigenden Energiebedarfes decken (aber nur, wenn alle gleichzeitig in Betrieb sind) – abgesehen davon, wie die Verspargelung der Landschaft aussähe (und wieviel Natur dafür noch zerstört werden müsste), wenn sich der Anteil signifikant steigern würde. Die A61 in Richtung Süden zeigt erschreckende Beispiele, wie so etwas aussehen könnte.

Es um nicht weniger als die Glaubwürdigkeit einer ganzen Industrienation – mit einer Wirtschaft, die uns 2008 durch eben diese Struktur durch die Finanzkrise getragen hat. Nur der industrielle Kern der Bundesrepublik hat damals verhindert, solche Implosionen wie zum Beispiel Großbritannien mit der durch Margret Thatcher eingeleiteten Deindustrialisierung in den 1980er Jahren zu erleben.

Dass dieser Symbolismus jedoch praktische Konsequenzen hat, zeigt das Wahlergebnis in Bayern und zeigen auch aktuelle Umfrageergebnisse. Ungläubig müssen selbst die eingefleischtesten Anhänger von B90/Die Grünen die Wahlergebnisse in Bayern bestaunt haben. Die großen Städte in Bayern sind grün, in vielen Landkreisen sind die Grünen die zweitstärkste Kraft. Also alles richtiggemacht, lieber Anton Hofreiter? Mitnichten. Die Kehrtwende, mit der die Entscheidungen von vor nicht einmal zwei Jahren in NRW jetzt negiert werden, ist atemberaubend und aus meiner Sicht trägt dieses Gebaren zu weiterer Politikverdrossenheit bei. Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Dass sich die „einfachen“ Beschäftigten in Scharen von der Politik abwenden, wird wahrscheinlich als Kollateralschaden in Kauf genommen, wenn die kurzfristigen Wahlergebnisse stimmen. Das Weltklima wird durch so etwas nicht gerettet.
Um es klar zu sagen, spätestens nach Fukushima war es richtig, sich aus der Atomkraft zur Energiegewinnung zu verabschieden. Diese Form der Energiegewinnung ist nicht beherrschbar. Damals war aber auch klar, dass die Braunkohle als Brückentechnologie höchstens noch 30 Jahre bis 2045 gebraucht wird, bis der endgültige Umstieg auf erneuerbare Energien gelungen ist. Dieser Weg war durch die Leitentscheidung 2016 mit Stimmen der Grünen geebnet und meines Erachtens vernünftigerweise eingeschlagen worden.

Natürlich, und das werfe ich in meinen Gesprächen auch meinen Freunden und Familienmitgliedern vor, die „Hambi muss bleiben“ skandieren, ist das eine Doppelmoral, die es einfach macht, sich auf die „Bösen“ zu konzentrieren und das eigene (schlechte?) Gewissen zu entlasten. Der Weltklimarat stellt vier sehr klare Forderungen an jeden einzelnen von uns, wenn der persönliche CO2-Fußabdruck verringert werden soll: ein Kind weniger haben, autofrei leben, transatlantische Flüge vermeiden und sich ausschließlich pflanzlich ernähren. Wer ist dazu bereit, wenn es doch einfacher geht und man die persönliche Verantwortung sehr einfach von sich auf andere – hier die „bösen“ Energieriesen wegschieben kann? Vor kurzem habe ich auf Facebook folgendes Resümee gelesen, dem ich mich umfassend anschließen kann: „Bei allem, was ist, ist es einfacher, dass der Wald bleibt. Ich bin auch dafür, alles für eine Bewahrung der Schöpfung zu tun, und den Klimawandel zu stoppen. Es ist eben nicht so einfach. Einfacher ist es, einfach für den Hambacher Wald zu sein.“

So wie es richtig ist, die Energiewende anzugehen, muss es wichtig sein, unserer Region und den Menschen, die hier leben, Zeit zu geben für einen Strukturwandel, in dem wir uns längst befinden. Die Menschen, die Angst um ihre Zukunft haben, leben hier und fahren nach einem Waldspaziergang im Hambacher Forst am Wochenende eben nicht in ihren SUVs zu sich nach Hause in Dörfer und Städte, wo man nicht vor einschneidenden Umbrüchen einer ganzen Region steht. Ich fordere nur etwas Zeit und Verlässlichkeit.

Klaus Krützen, Bürgermeister